Als 1638 Sibylla Schwarz in Greifswald gestorben war, erschien im Druck eine umfangreiche Leichenpredigt auf sie. Verfasser war der Prediger Christoph Hagen aus Daberkow, der als Kriegsflüchtling Aufnahme in Greifswald gefunden hatte und an St. Nikolai, wo das Begräbnis auch stattfand, wirkte.

Der Leichenpredigt sind ein lateinisches Trauergedicht und ein lateinisches Epitaph beigegeben. Das umfangreiche Trauergedicht stammt von Joachimus Skynemannus. Darin wird Sibylla Schwarz vergleichsweise umfangreich als Dichterin gewürdigt. Auch Skynemannus benutzt, wie Hagen in seiner Predigt, den zeitlichen Zusammenfall des Hochzeitstages von Sibyllas Schwester Emerentia mit dem Sterbetag Sibyllas als zentralen Gedanken (Fundort) für sein Gedicht.

Im Auftrag des Sibylla Schwarz e.V. erarbeitete Lars Wattenberg (Göttingen) eine deutsche Prosaübertragung. Damit wird erstmalig der Zugang zu diesem wichtigen, bisher nicht beachteten Dokument und Zeugnis der zeitgenössischen Rezeption der Dichterin möglich.

Greifswald, 1. Oktober 2022

Joachimus Σκυνηmannus: Epicedium auf Sibylla Schwarz

Transkription und Übersetzung von Lars Wattenberg (Göttingen)

In dem Trauergedicht auf Sibylla Schwarz wird zunächst erzählt, wie der Jurist Hermann Queren bzw. Querinus im Sommer in den Garten beim Haus des Christian Schwarz kommt und um die Hand der als Blume beschriebenen Emerentia Schwarz, Sibyllas älterer Schwerster, anhält, wozu der Vater seine Zustimmung gibt. Sodann erscheint Jesus und kündigt an, Querinus dürfe Emerentia heiraten, doch werde er selbst Sibyllas Bräutigam sein. Er verspricht ihr das ewige Leben und fordert sie auf, bereitwillig mit ihm zu kommen. Sibylla stimmt ohne Zögern zu und verabschiedet sich vom Haus des Vaters. Das Gedicht ist im daktylischen Hexameter verfasst, aber in der Übersetzung wird darauf verzichtet, das Versmaß nachzuahmen.

Epicedium

 

Solibus æstivis Præclari Consulis ædes
Schwarteni vultu Doctor Qverinus amico
Fortè salutabat Clarias: Finitimus hortus
His est, indugredi quem avet, expetit, urget, anhelat
Qverinus; voti compos scrutarier imum,                               5
Hem, pentrale cupit, cûi Proprietarius Horti
Annuit; obtutu Qverinus singula circum-
circà collustrat solers; videt eminùs atque
Florem Virgineum; Florem decerpere gestit
Pollice subtili: Flos hic Emrentia Schwartzen                         10
Audit; decerpit Qverinus molliter ipsum
Flosculum, et in proprios sibi soli tradier usus
Postulat, ac aufert, sed suffragante Parente;
Et compromittunt in rem pars utraque. Mirum!
Non mora; se confert ad eosdem cominùs Hortos               15
Conditor humani generis, speciosior alter
Quo non est, Christus, Mundi dulcissimus Hospes,
Ecclesjæ et Sponsus quàm jucundissimus; ille
Observatque sui Qverini Corrivalis
Tùm gressus Veneresque pias, tùm farier infit:                    20
Hunc Qverine, Decus Patriæ, Legumque Sacerdos
Pervigil, hunc, inquam, libuit decerpere Flosclum
Quem tibi fervidiùs, gratam E-que-Merentiam, amicis
Articulis, habeas tibi, delecteris et ipso
Nunc aliquantispèr, vitæ hôc mortalis in usu:                      25
Ast, qui jam superest peramœnus Flosculus alter,
Nolim hunc quis satagat Mortalis carpere; nolim
Corrivalis Amor terreno hoc schemate tangat.
Flosculus hic illa est, Vates divina, Sibylla,
Carmine divino divina Poëtria pollens:                                 30
Non aliqua ut facies densissima Nubis opacæ
Ampliùs hunc, patiar, prægnans et turbine nimbus
Terreat; et quanquàm, Mors ut sicilire laboret
Hunc, patiar, tamen in damnosam vergere Floscli
Perniciem, haud patiar: Vitam lucrabitur, ecce,                   35
Flosculus iste meus; mens est inducere campis
Jugiter Elysiis in odorem svaveölentem
Et mihi et Æterno paritèr Summoque Parenti.
Floscule care, tui gratissima cura Parentis,
Blandior atque seges, Thalami et peramabile pignus           40
Schwarteni; cunctis præstansque Sibylla Sibyllis,
Credula quas unquàm atque superstitiosa Vetustas
Est mirata; mei Cordis preciosa Voluptas;
Quin ædes patrias, quin hortos linquis avitos?
Speque Fideque Tuo, heus, Sponso coniuncte Θεάνδρῳ     45
Surcule; nonnè velim nunc Te obliviscier ædes
Patris jucundi? quin transplantabere pratis
Ἐκλεκτῶν? Paradisiacis condigna Cupresse
Vallibus irriguis; Sponsi consperse Cruore
Floscule mi roseo, nunc includende lacertis                         50
Æternùm, ecce, meis; adsis, ô jugiter adsis,
Inter perpetuò Ἐκλεκτῶν pia Lilia vernans.
Dixerat: hinc Virgo pede non remorante secuta est,
A Laribus patriis se dulci voce sequestrans:
O, inquit, Jesu, dulcissime Cordis Ocelle,                              55
Quàm cupio, æternùm Tibi Flosculus esse venustus,
Atque mei Sponsi sub deliciarier umbrâ.
Vos dulces quondàm salvete valete Penates,
Me nunquàm cursum hunc etenim currisse pigebit
Segmine Aphæreseos, celeranteque commate. St! St!        60
Curriculum læti hoc quondàm curretis et ipsi:
Fertur in occursum vobis modo Sponsus Iesus
Ore salutigero, moto velamine. St! St!

Übersetzung

 

Beim Schein der Sommersonne entbot einst dem klarischen[1] Haus des angesehenen Konsuls[2] Schwarz der Doktor Querinus mit freundlicher Miene seinen Gruß. An dieses Haus grenzt ein Garten, den Querinus zu betreten begehrt, erstrebt, drängt, lechzt. Nachdem sich sein Wunsch erfüllt hat, begehrt er – ach! –, das Allerinnerste zu erkunden. Dazu gibt der Eigentümer des Gartens seine Zustimmung. Mit kundigem Blick beschaut Querinus alles ringsumher, und da sieht er von ferne eine jungfräuliche Blume. Er sehnt sich danach, die Blume mit feinen Fingern zu pflücken. Diese Blume hört auf den Namen Emerentia Schwarz. Vorsichtig pflückt Querinus das Blümchen und bittet, es möge ihm allein zur eigenen Verwendung überlassen werden, und er nimmt es fort, aber mit Zustimmung des Vaters; beide Seiten geben sich dazu ein gegenseitiges Versprechen. – Oh Wunder! Sogleich begibt sich ganz nah zu dem erwähnten Gärten der Schöpfer des Menschengeschlechts, dessen strahlende Schönheit niemand übertrifft, Christus, süßester Gast der Welt, und äußerst liebreizender Bräutigam der Kirche[3]. Jener betrachtet des Querinus, seines Nebenbuhlers, Schritte und dessen fromme Liebe[4]. Dann beginnt er zu sprechen:

[21] »Dieses Blümchen, o Querinus, du Zier deines Vaterlandes und immer wachsamer Priester der Gesetze[5], dieses Blümchen, sage ich dir, das zu pflücken es dich so brennend verlangte, die durch ihre lieblichen Glieder entzückende Emerentia, das magst du haben, und du sollst dich nun eine Zeit lang an diesem erfreuen, während du dein sterbliches Leben führst. Aber das so liebliche zweite Blümchen, das noch übrig ist: Ich will nicht, dass ein Sterblicher sich bemühe, dieses zu pflücken. Ich will nicht, dass mein Nebenbuhler Amor es in dieser irdischen Gestalt berühre. Dieses Blümchen ist jene dort, die göttliche Prophetin Sibylla, eine göttliche Dichterin, die über ein göttliches Lied verfügt. Ich werde nicht dulden, dass irgendein Anblick dichtgedrängter, finsterer Schwaden oder eine vom tosenden Wind erfüllte Sturmwolke jemals wieder dieses Blümchen in Angst versetzt; und obwohl ich dulde, dass der Tod sich anschickt, es mit seiner Sichel abzuschneiden, werde ich es doch nicht dulden, dass dies dem Blümchen zum Schaden und Verderben gereiche. Mein Blümchen hier – sehet da! – wird das Leben erlangen. Ich will es für immer auf die Elysischen Felder führen, zum süßriechenden Duft, gleichermaßen für mich und für den Ewigen und Höchsten Vater.

[39] Mein liebes Blümchen, teuerste Sorge deines Vaters, liebliche Saat und höchst liebenswürdiges Unterpfand der Ehe des Herrn Schwarz: Sibylla, die du alle Sibyllen[6] übertriffst, die je das leichtgläubige und abergläubische Altertum bestaunte, meines Herzens teure Wonne: Wieso verlässt du nicht das Haus des Vaters, wieso nicht die Gärten deiner Ahnen? Voller Hoffnung und Treue deinem – oh! – gottmenschlichen[7] Bräutigam verbundener Schössling, sollte ich denn nicht wollen, dass du nun das Haus des lieben Vaters vergisst? Wieso solltest du nicht auf die Felder der Auserwählten[8] verpflanzt werden? Du der bewässerten Täler des Paradieses ganz und gar würdige Zypresse; mein Blümchen, besprengt mit dem rosenfarbenen Blute[9] deines Bräutigams; du sollst nun – siehe! – auf ewig in meine Arme eingeschlossen werden. Sei bei mir, oh, sei stets bei mir, zwischen den frommen Lilien[10] der Auserwählten ewig frühlingshaft blühend!«

So hatte er gesprochen. Da folgte ihm die Jungfrau nach, wobei ihre Schritte nicht zögerten, und trennte sich mit süßen Abschiedsworten vom Haus des Vaters[11]:

[55] »O Jesus«, sprach sie, »meines Herzens süßester Augapfel, wie sehr wünsche ich, ewiglich dir ein anmutiges Blümchen zu sein und mich im Schatten meines Bräutigams zu erfreuen. Du, einstmals so liebes Haus, leb und gehab dich wohl! Mich wird es wahrlich niemals reuen, diese Laufbahn durchlaufen zu sein mit gekürztem Worte und eiligem Einschnitt.[12] Pst! Pst![13] Diese Laufbahn werdet auch ihr selbst einmal frohen Mutes durchlaufen. Bald kommt euch Jesus als Bräutigam entgegen mit Heil versprechendem Munde, nachdem der Schleier gelüftet worden ist. Pst! Pst!«

[1] Das Adjektiv ‚klarisch‘ (Clarias) verweist auf Klaros in Kleinasien, wo sich ein Tempel und ein Orakel des Apollon befanden. Sibylla wird durch die Verbindung mit Apollon als inspirierte Dichterin und Weissagerin charakterisiert.

[2] Sibyllas und Emerentias Vater Christian Schwarz war Bürgermeister von Greifswald und Landrat in Pommern.

[3] Die Darstellung Jesu als Bräutigam der Kirche oder gläubiger Jungfrauen ist ein gängiges Motiv.

[4] Das lat. Veneres ist der Plural von Venus, der Göttin der Liebe und Erotik. Der Name der Göttin wird in der Dichtung häufig für die Liebe gebraucht.

[5] Hier wird darauf angespielt, dass Querinus Jurist ist.

[6] Als Sibylla bzw. Sibylle wurden in der Antike verschiedene Weissagerinnen und Priesterinnen des Apollon bezeichnet. Die berühmteste Sibylle in der römischen Literatur ist die Sibylle von Cumae, die unter anderem im sechsten Buch der Aeneis, dem großen Epos des Dichters Vergil, eine wichtige Rolle spielt.

[7] In der lateinischen Fassung steht hier das griechische Wort θέανδρος (‚Gottmensch/-mann‘).

[8] In der lateinischen Fassung steht hier und in v. 52 das griechische Wort ἐκλεκτοί (‚Auserwählte‘).

[9] Die Beschreibung des Blutes Christi als roseus (‚rosenfarben‘) findet sich auch im Osterhymnus Ad cenam agni providi.

[10] Vgl. etwa die von Gott versorgten und daher sorglosen Lilien in der Bergpredigt (Mt 6,28; Lk 12,27).

[11] Die Schutzgötter des Hauses (Lares) stehen in der lateinischen Dichtung regelmäßig für das Haus selbst.

[12] Der Vers ist nicht leicht verständlich. Er scheint auf das kurze Leben und auf die dichterische Tätigkeit der Sibylla Schwarz anzuspielen. Unter aphaeresis versteht man für gewöhnlich die Wegnahme oder Kürzung eines Buchstabens oder einer Silbe am Wortanfang. Ein comma (‚Komma‘) meint im Lateinischen kein Satzzeichen, sondern entweder einen Einschnitt oder Abschnitt einer Periode oder eines Verses oder, im Bereich der Metrik, eine Zäsur.

[13] Die lateinische Interjektion St! ist eine Aufforderung zum Schweigen, vergleichbar dem deutschen sch! oder pst!